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Corona-Untersuchungsausschuss Sitzung 5: Die Lage der kleinen Unternehmer und der Selbständigen

Die Sitzung fand am 3. Juli 2020 statt.

Vom Ausschuss verlinktes Video auf youtube.de (Länge 4 Stunden 22 Minuten inklusive über einer Stunde Pause).

Einleitung

In dieser Sitzung wird der Blick auf die Folgen des Lockdowns speziell im Bereich des Wirtschaftslebens in Deutschland geworfen. Im ersten Teil der Sitzung wird die ganz praktische Lebenssituation von kleinen Unternehmen und Selbständigen betrachtet. Im zweiten Teil wird die deutsche Volkswirtschaft als Ganzes untersucht.

Teilnehmer

  • Nils Roth, Geschäftsführer und Betreiber der Karaokebar „Green Mango“ in Berlin.
  • Martin Ruhland, Musiker und Werbetreibender für Barfussschuhe aus der Nähe von München.
  • Professor Christian Kreiß, Professor für Ökonomie an der Hochschule Aalen, das Gespräch mit ihm konnte leider aus technischen Gründen nicht durchgeführt werden.
  • Heinz Kruse, ehemaliger Wirtschaftsdezernent aus Hannover und Manager in verschiedenen Unternehmen aus dem Bankbereich. Heute im Ruhestand.

Aussagen

Nils Roth

  • Herr Roth (wie auch Herr Ruhland) berichtet von äußerst bürokratischen Verfahren, um an die verschiedenen vom Staat eingeführten Hilfen zum Abfedern der wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns zu gelangen. In Berlin gab es zum Zeitpunkt der Sitzung bereits fünf unterschiedliche Corona-Hilfspakete, die jeweils andere Voraussetzungen und Zielgruppen haben.
  • Er konnte seine Karaokebar seit Mitte März nicht wieder öffnen. Da auch im Sommer kein Gesang erlaubt war, profitierte er nicht von den damaligen Lockerungen für die Gastronomie. Das Konzept der Bar geht ohne den Gesang nicht mehr auf. Die Angestellten seiner Bar sind seither in Kurzarbeit.
  • Für die Karaokebar kam nur eines der Hilfspakete in Frage, wofür er einen Kredit bei der staatlichen KfW-Bank beantragen musste. Da er den „falschen“ Kredit beantragt hatte (nämlich einen günstigeren) wurden ihm die Hilfen nicht gewährt.
  • Er wie auch Herr Ruhland berichten, dass persönliche Lebenshaltungskosten von Selbstständigen von den Hilfen ausdrücklich nicht abgedeckt sind, selbst das Geschäftsführergehalt von Herrn Roth wurde zunächst von den Behörden in Abrede gestellt.
  • Anträge auf Stundungen etwa für die Abführung der Mehrwehrtsteuer an das Finanzamt müssten jeden Monat neu gestellt werden. Er sieht eine Menge Zeit seines Unternehmens nur noch mit Bürokratie vergeudet, ohne, dass er davon finanziell etwas nennenswertes hat.
  • Nicht alle Betroffenen werden gleich behandelt bzw. handeln gleich. So berichtet Herr Roth davon, dass im Sommer einige konkurrierende Karaokebars sehr wohl geöffnet hatten und zwar mit Gesang. Seine Anfragen diesbezüglich bei Ämtern und Polizei führten zu nichts.
  • Die Ämter selbst können keine klaren Aussagen treffen, welche Auflagen für Betriebe genau gelten. Es werden auch keine Vorschläge gemacht, wie Betriebe wieder „pandemigerecht“ öffnen können.

Martin Ruhland

  • Herr Ruhland hat gleich zwei Standbeine als Musiker und als Werbetreibender für Barfussschuhe auf Messen. Beide Tätigkeiten kann er aufgrund der Einschränkungen nun nicht mehr ausüben.
  • Künstler konnten einen Kredit über 5.000 Euro erhalten konnten, was ihm nicht gelungen sei. Darüber hinausgehende Hilfen stehen generell nicht zur Verfügung.

Heinz Kruse

  • Herr Kruse legt ganz allgemein seine Meinung zur wirtschaftlichen Lage in Deutschland dar, unabhängig von den Entwicklungen rund um Corona. Seiner Ansicht nach hat die Politik seit langem nur noch die Großkonzerne und die Finanzindustrie gefördert. Das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, die einheimischen Potentiale in kleinen und mittleren Unternehmen, wurden konsequent vernachlässigt. Kredite für gute Ideen von Selbständigen gab es kaum mehr, solche Ideen wurden gerne vom Ausland aufgekauft.
  • Er sieht den europäischen Süden wirtschaftlich zusammenbrechen so wie zum Beispiel Italien, wo es mittlerweile nahezu keine funktionierende Industrie mehr gäbe.
  • Die in Deutschland bereits strukturell geschwächte Wirtschaft würde nun durch das „Ereignis Corona“ endgültig in den Abgrund geschickt. Die »alte Wirtschaft« wie die Automobilindustrie wird seiner Meinung nach keine Innovationen mehr hervorbringen. Ihn erinnere die derzeitige Lage in diesem Bereich an seine eigenen Erfahrungen im Bereich der Bergbauindustrie, die vor Jahrzehnten in Deutschland auf ähnliche Weise unterging.
  • Über Deutschland hinaus sieht Herr Kruse die ganze EU in der Krise, die eine „Kopfgeburt“ sei, welche zu einem bürokratischen, selbstverliebten udn abgeschirmten Apparat geführt hat, welcher nicht mehr handlungsfähig ist. Eine ähnliche Diagnose stellt er für die nationale Regierung in Deutschland auf. Es herrsche ein Demokratieversagen in ganz Europa. DIe Macht würde nicht mehr geteilt. Es wäre jedoch notwendig mit langem Atem eine Phase der wirtschaftlichen Modernisierung zu begehen. Während man in Europa auf die USA geblickt hätte, seien beide von Asien längst überholt worden. Deutschland sei bildungsmäßig verdummt, was sich schon alleine an dem Widerspruch ablesen ließe, dass es gleichzeitig eine hohe Arbeitslosigkeit gäbe, aber dennoch die Unternehmen in vielen Bereichen kein qualifiziertes Personal fänden. Das Augenmerk müsste jetzt auf die Infrastruktur, die Bildung und die Umstellung auf das Informationszeitalter gelegt werden. Kleine und mittlere Unternehmen müssten gefördert werden.
  • Auf die Frage danach, warum die Maßnahmen von der Politik nicht zurückgenommen werden, obwohl (im Sommer) keine pandemische Gefahr von nationaler Tragweiter mehr zu erkennen sei, meint Herr Kruse, dass die Verwaltungsapparate und die Machtzentren in Deutschland heute aufgebaut seien, wie zuletzt im Feudalismus. Der Staat handele nach einem preußischen Prinzip, jedoch nur im negativen Sinne. Die Lage biete mehr Handlungsoptionen, als die Politik noch verarbeiten könne, deshalb sei es nur natürlich, dass sie sich abschottet und nur noch auf „Vertraute“ hört.

Sonstiges

  • Sowohl Herr Roth als auch Herr Ruhland empfinden dass es keine Perspektive für sie gibt, da es nicht absehbar sei, wann ihre Tätigkeiten wieder in vollem Umfang stattfinden können. Selbst wenn die Einschränkungen sofort wieder aufgehoben würden sehen sie die Gefahr, dass viele Menschen von sich aus öffentliche Veranstaltungen in Zukunft meiden würden, weil sie Angst haben, oder sich weiterhin an die einmal eingeführten Regeln halten wollen. Tatsächlich befindet sich Deutschland heute im Winter 2020/2021 auch wieder in einem vollständigen Lockdown, so dass diese Perspektive weiterhin nicht gegeben ist.
  • Die Anwesenden stellen fest, dass langfristig für derartig betroffene nur noch das Beantragen von Hartz-IV-Unterstützung übrig bleibt. Dies zieht jedoch weitreichende Auswirkungen nach sich, wie zum Beispiel unter Umständen das vorherige Aufbrauchen von langfristigen Reserven oder Immobilienwerten.
dt/corona_ausschuss/sitzung5.txt · Zuletzt geändert: 27.01.2021 22:40 von Matthias Gerstner