Die Kreuzung des Grau(ens)


Sie suchen alle diese ehemals schönen Städte auf und sind niedergeschlagen wenn Sie sie mit gedemütigtem Kopf verlassen in der Gewissheit, dass alle diese Städte verloren sind. Der Ungeist von heute hat sie verunstaltet. Hat sie vernichtet. Sie müssen sie in den alten Büchern, auf den alten Stichen suchen, um sie zu finden. Die Wirklichkeit hat sie längst ausgelöscht.

Thomas Bernhard: Auslöschung

Vor einem halben Jahr begann ich diese Artikelreihe mit einem Beitrag über die Kreuzung Kilianstraße-Erlangerstraße im Nürnberger Stadtteil Thon, welche ich als eine der bedrückendsten Gegenden der Nürnberger Nordstadt einstufte. Heute beschäftigen wir uns mit einer weiteren großen Kreuzung weiter nördlich entlang der B4 in Richtung Erlangen, wo sich die Erlanger Straße, die Wilhelmshavener Straße und die Schleswiger Straße (nach der hier eine Straßenbahnhaltestelle benannt ist) treffen. Mit der kürzlichen Fertigstellung eines Neubaus an dieser Stelle kann meiner Meinung nach die Auszeichnung für die bedrückendste Gegend der Nordstadt umstandslos hierher weitergereicht werden.

Wer an diesem Ort parkt oder aus Bus oder Bahn aussteigt wird vermutlich das Einkaufszentrum in der nordöstlichen Ecke zum Ziel haben. Der Großsupermarkt, welcher hier dominiert, hat schon länger farblich auf das zeitgenössische Anthrazit umgestellt. Ein großer Parkplatz mit heutzutage ebenso vorwiegend grauen, silbernen oder anthrazitenen Gefährten erfüllt hier den Blick, wenn man sich zu Fuß den Geschäften nähert. Asphalt und Beton sind die hier vorherrschenden Materialien.

Blick über den Parkplatz auf das Einkaufszentrum mit Werbe-Stele im Vordergrund. Aufnahme vom 28. März 2025.

Auf der anderen Seite der Wilhelmshavener Straße, in der südöstlichen Ecke der Kreuzung, findet sich ein Wohnkomplex, welcher vor rund acht Jahren gebaut und als “modernes Wohnen in Thon” beworben wurde. Ein Turm mit sieben Stockwerken bildet das weithin sichtbare Hauptmerkmal dieser Anlage. Man hat hier versucht die schießschartenartigen Fenster mit diagonalen Elementen etwas aufzulockern. Farblich dominiert noch die weiße Fassade begleitet von einem grauem Band im Erdgeschoss, sowie die wohlbekannten anthrazitenen Fensterstöcke. Gut gealtert ist die Fassade des Baus nicht gerade, so dass der Anblick mittlerweile schon recht schäbig ist.

Blick auf den Turm der Wohnanlage in der Wilhelmshavener Straße. Aufnahme vom 28. März 2025.
Blick auf die Hausfront der Wohnanlage in der Wilhelmshavener Straße. Aufnahme vom 28. März 2025.
Blick auf die Wohnanlage in der Wilhelmshavener Straße von der anderen Ecke der Kreuzung aus. Aufnahme vom 28. März 2025.
Blick auf die im Bau befindliche Wohnanlage vom Parkplatz des Einkaufszentrums aus. Aufnahme vom 19. April 2016.

Als vorläufiger Höhepunkt der architektonischen Wunder an dieser Kreuzung wurde kürzlich an der Ecke Schleswigerstraße/Erlangerstraße ein Gebäude fertiggestellt, welches dem neuen Trend zu vollständig dunkelgrauen bis schwarzen Fassaden folgt, den ich bereits in meinem Beitrag über Wetzendorf erwähnt hatte. Zuvor stand hier ein kleineres, unscheinbares Wohn- und Geschäftsgebäude, vermutlich aus den Sechzigerjahren. Was hier nun hingestellt wurde ist deutlich wuchtiger und beherbergt unter anderem die Firmenzentrale des Bauträgers “eco Loft”. Die drei grünen Buchstaben der Aufschrift “eco” sind neben einem giftgrünen Rechteck bei der Eingangstüre aber auch schon alles, was an diesem Gebäude eine Farbe hat.

Blick auf die Firmenzentrale von "eco Loft" von der Wilhemshavener Straße aus. Aufnahme vom 7. April 2025.
Blick auf die Firmenzentrale von "eco Loft" von der Schleswiger Straße aus. Aufnahme vom 7. April 2025.
Blick auf die Firmenzentrale von "eco Loft". Aufnahme vom 7. April 2025.

Gut zu sehen ist hier auch die Entwicklung, dass immer mehr Funktürme auf Wohn- und Geschäftsgebäude wie dieses gesetzt werden. Der Turm entspricht schon rund der halben Höhe des eigentlichen Gebäudes und verunstaltet das, was manche vielleicht die “klaren Formen” dieses Baus nennen würden. Zwar kann für meine Begriffe an so einem Bau nichts mehr verunstaltet werden. Leider geschieht dasselbe aber auch an alten Gebäuden in der Stadt, wo dadurch Verunstaltung tatsächlich stattfindet.

Hinter diesem voll-anthrazitenem Prachtbau befindet sich eine Tankstelle und ein neueres Wohngebäude. Als letzteres vor ca. zehn Jahren erbaut wurde empfand ich es als besonders absurd ein solches Gebäude direkt hinter eine Tankstelle zu setzen. Es ist vollständig in weiß gehalten und wirkt wie in US-amerikanisches Motel, wozu die Tankstelle davor dann ja wiederum passt.

Blick auf Wohngebäude mit vorgelagerter Tankstelle Ecke Schleswiger Straße / Erlanger Straße. Aufnahme vom 7. April 2025.

Mit der Errichtung des “eco Loft” wirkt dieser Tankstellenbau jedoch schon geradezu erholsam auf das Auge. Das farbenprächtigste in der ganzen Gegend ist derzeit tatsächlich die Tankstelle selbst. Da könnten sich die Grizzlys noch etwas Inspiration für ihren Bau holen.

Blick auf Wohngebäude mit vorgelagerter Tankstelle Ecke Schleswiger Straße / Erlanger Straße mit Vorplatz des "eco Loft" Gebäudes. Aufnahme vom 7. April 2025.

Wie schon an der Haltestelle “Thon” festzustellen war, kann man auch hier sehen, dass sich auch die VAG rege an der Bereicherung der Stadt mit Anthrazit beteiligt.

Blick auf einen Teil der Straßenbahnhaltestelle "Schleswiger Straße" mit Fahrradabstellplatz. Aufnahme vom 7. April 2025.

Nicht direkt im Einzugsbereich der Kreuzung und hier nur im Hintergrund zu sehen ist das Firmengebäude der Firma “Beck”, welches ebenfalls in ebenmäßigem anthrazit erstrahlt. Zentral gesteuerte Jalousien, die alle gleichzeitig nach unten gefahren werden, sorgen bei solchen Gebäuden heute oft für einen besonderen Effekt, der an eine Fabrik, eine Kaserne oder einen Bunker denken lässt.

Blick auf die Straßenbahnhaltestelle "Schleswiger Straße". Im Vordergrund ein Teil des Parkplatzes des Einkaufszentrums. Im Hintergrund die Tankstelle und das Firmengebäude der Firma "Beck". Aufnahme vom 7. April 2025.

Wenn man zu diesen Bauwerken nun noch die endlose Verkehrslawine hinzurechnet, die an dieser Kreuzung herrscht, so kann man sich vorstellen, dass sich die Aufenthaltsqualität an diesem Ort gegen Null bewegt. Angelehnt an das einleitende Zitat in diesem Artikel möchte ich von einem Ungeist sprechen, der in einer Gesellschaft herrscht, die solche Orte hervorbringt.

Hinweis: Alle in diesem Beitrag veröffentlichten Bilder sind private Aufnahmen des Autors. Ich stelle Ihnen die Bilder gerne zur weiteren Verwendung zur Verfügung, wenn Sie auf mich als Urheber verweisen.