Dies ist ein erster Beitrag zum Thema Architektur. Warum Architektur? Ich bin der Meinung, dass die Erzeugnisse der Menschen gleichzeitig die Verfassung der Gesellschaft in ihrer Zeit widerspiegeln. Die Gebäude, die um uns herum in Stadt und Land aufgestellt werden, sind dabei besonders hervorstechend, schon alleine durch ihre Größe, aber auch dadurch, dass sie unser Lebensumfeld unausweichlich prägen, sobald wir auf die Straße gehen, ohne, dass wir einen unmittelbaren Einfluß darauf haben.
Ich will in jedem Beitrag zum Thema Architektur ein Zitat zum Thema einflechten. Das folgende erscheint mir als Eröffnung gut geeignet:
Vielleicht ist das Entsetzen dieser Zeit in den architektonischen Erlebnissen am sinnfälligsten: eine grauenhafte Müdigkeit bringe ich stets heim, wenn ich durch die Straßen gewandert bin. Ich brauche die Häuserfronten gar nicht eigens betrachten; sie beunruhigen mich, auch ohne dass ich den Blick zu ihnen erhebe.
— Hermann Broch: Die Schlafwandler
Den Anfang mache ich mit einer Gegend meiner Heimatstadt Nürnberg, die sich in den vergangenen Jahren immer mehr - und in just diesen Tagen sogar gewaltig - verändert. Es geht um die große Kreuzung bei “Thon” - was vor gerade einmal hundert Jahren noch ein bäuerlich geprägtes Dorf war - in der Nordstadt an der sich Kilianstraße, Erlanger Straße und Forchheimer Straße treffen. Wirklich schön war es hier auch vor Jahrzehnten schon nicht: Die B4 in Richtung Erlangen verläuft hier, es herrscht ein großes Verkehrsaufkommen, vor allem Gewerbe in Form von Automobilhändlern, Werkstätten, Tankstellen und Büros existieren hier seit langem. Neu ist, dass in jüngster Zeit Wohngebäude direkt an der Kreuzung errichtet wurden, sowie immer größere und moderne “Kästen” aufgestellt werden, die den Charakter der Gegend nachhaltig verändern.
Zum Vergleich, wie es hier vormals für lange Zeit aussah, kann ein Luftbild von 2012 herangezogen werden.
Beginnen wir die Betrachtung der Veränderungen der jüngeren Zeit an der südöstlichen Ecke der Kreuzung. Noch immer steht hier direkt an der Straße eine Autowerkstatt. Gleich dahinter jedoch, an der Ecke Kilianstraße/Äußere Bucher Straße finden wir seit einigen Jahren ein neu errichtetes Wohngebäude mit dem schönen Namen “Kilian-Eck”. Wo sich zuvor ein Gewerbegebäude und ein Parkplatz befanden, begrüßt uns nun der typische Neubau unserer Zeit: Flachdach, weiße und schiefergraue Fassade, schießschartenartige Fenster. Das verschont gebliebene kleine Trafo(?)häuschen direkt links davor mit Giebeldach und roten Ziegeln wirkt schon fast künstlerisch im Vergleich.
Von der Kilianstraße aus östlicher Richtung kommend wirkt der Bau etwas erträglicher, da hier immerhin zwei größere Bäume gepflanzt wurden.
Vielleicht lindern die Bäume für die Bewohner auch das, was sich beim Blick auf die andere Straßenseite zeigt. Gegenüber, an der nordöstlichen Ecke der Kreuzung, ist vor einer Weile der Bau “Kilian 1” fertiggestellt worden. “Es entstehen 52 Wohnungen und viel Grün” befanden die Nürnberg Nachrichten vor zwei Jahren. Zuvor befand sich an dieser Stelle ein Autohaus.
Die Fassade ist hier nicht ganz so trist geraten wie beim “Kilian-Eck”. Ob es jedoch Freude macht oder gar “viel Grün” bietet, bleibt dem Auge des Betrachters überlassen. Vielleicht war mit dem “Grün” ja auch der leicht grünstichige Fassadenanstrich gemeint.
Die Rückseite des Hauses grenzt unmittelbar an die benachbarte Aral-Tankstelle. Ein kleiner eingezäunter Streifen hinter dem Haus beherbergt Spielmöglichkeiten für Kinder.
Dieses Wohnhaus befindet sich also an einer der meistbefahrensten Kreuzungen der Stadt, hat eine Tankstelle hinter sich und das liebliche “Kilian-Eck” gegenüber. Auf dem Gerüst des noch im Bau befindlichen Gebäudes war für eine Weile ein Werbetransparent angebracht, auf dem (sinngemäß) der folgenden Satz zu lesen war “Sundowner auf der eigenen Dachterrasse”. Den Werbefachleuten war vermutlich nicht die alternative australische Bedeutung des Wortes “Sundowner” bekannt. Dort kann der Begriff nämlich auch für eine Person stehen, die Abends auf einer Farm ankommt und vorgibt nach Arbeit zu suchen, in Wirklichkeit aber nur einen Platz für die Nacht und einer warme Mahlzeit sucht. Ist dieser Bau in diesem Sinne vielleicht nur als Notunterkunft gedacht?
Wenn man sich von der Forchheimer Straße aus in Richtung Kilianstraße bewegt, eröffnet sich der Blick auf die beiden soweit beschriebenen Bauten und zeigt ein meiner Meinung nach besonders bedrückendes Bild.
Die VAG (Nürnberger Verkehrsbetriebe) leistet auch einen Beitrag zum dem Gesamtbild der Kreuzung. Die Straßenbahnhaltestelle “Thon” ist (wie alle modernisierten Haltestellen) in der dominierenden Farbe unserer Zeit gehalten: Anthrazit.
Dasselbe gilt für die Masten der Oberleitungen. Leider nahm der Himmel während meiner Aufnahmen auch gleich eine passende Färbung an, was der Sache nicht zum Vorteil gereicht. Immerhin gibt es noch das begrünte Rasengleis, welches in der Presse jedoch etwas fröhlicher aussieht als in der Realität.
Nun wechseln wir in die südwestliche Ecke der Kreuzung. Bis zum Jahr 2016 war in Thon eine der größten Haltestellen für den Nahverkehr in der Stadt. Bis zur Erweiterung der U-Bahn-Linie 3 endeten hier zwei Straßenbahnlinien, danach nur noch eine. Busse in die nördlichen Vororte, nach Erlangen sowie zum Flughafen gingen hier ab. Ein Bekannter, den es zufällig einmal hierher verschlug, nannte die Haltestelle spontan den “Nabel der Welt”, weil man so eine Vielfalt an Verkehrsmitteln an dem schon fast ländlichen Stadtrand nicht unbedingt erwartet hätte.
Einen Eindruck, wie es hier vor fast 20 Jahren aussah, sollen folgende Aufnahmen geben.
In Überschwang konnte einen dieser Ort nun auch nicht gerade versetzen. Jedoch versprühte er einen gewissen rustikalen Charme, vielleicht sogar etwas Fernweh. Das dominierende Gebäude am Platz war der Bau von Müller-Medien. Das Gebäude wirkte in dieser Konstellation nicht erdrückend und mit Uhr- und Temperaturanzeige auf dem Dach gab es sogar eine nette kostenlose Information (mittlerweile nur noch die Uhr). Weiterhin würde ich sagen, dass die alte Haltestelle in Sachen “Grün” mit Leichtigkeit den Bau “Kilian 1” oder das Rasengleis der VAG schlagen würde - wenn es dieses Grün noch gäbe.
Damit kommen wir zum sprichwörtlichen Höhepunkt unserer Betrachtung. Die Endhaltestelle “Thon” wurde einige Kilometer nach Norden verlegt zu “Am Wegfeld”. Auf dem ehemaligen Gelände der Haltestelle, welches groß war, da sich hier die Wendeschleife der Straßenbahn sowie ein größerer öffentlicher Parkplatz befunden haben, wird jetzt ein großer Gebäudekomplex errichtet. Das Projekt nennt sich “THE ONE”, womit man vielleicht der Konkurrenz von “Kilian 1” gegenüber zeigen wollte, was eine richtige EINS ist.
Der höchste Gebäudeteil von “THE ONE” hat zwölf Stockwerke und wird damit nicht nur die Thoner Gegend, sondern große Teile des Nürnberger Nordens künftig beherrschen. Immerhin, die Fassade ist gemessen an modernen Vorbildern nicht die schlimmste. Insbesondere das Erdgeschoss mit einem Klecks Farbe und die Bogenformen haben etwas Charakter. Dankenswerterweise wurde bislang auf die Verwendung von Anthrazit verzichtet.
Alles in allem verändert sich der Charakter der Gegend jedoch erheblich. Aus der Ferne wirkt der Bereich schon jetzt wie ein neu hochgezogener Gewerbepark vergleichbar mit dem Nordost- oder dem Südwestpark der Stadt.
Zum Abschluss und vielleicht ein wenig zur Besänftigung des Gemüts folgt nun ein Blick auf die nordwestliche und letzte Ecke der fraglichen Kreuzung. Dort steht seit den Neunziger Jahren der Bau der “Schöller Stiftungen”, aus der Zeit der Glasfassaden. Meiner Meinung nach ist das noch der gelungenste Bau in der Gegend. Die geschwungene Glasfassade mit spiegelnden Fenstern wirkt nicht erdrückend, vielmehr hellt sie durch die Reflektionen die Stimmung ein wenig auf.
Wertvoll ist weiterhin das Grün rund um den Bau. Zur Straßenseite gibt es einige Teiche und mehrere Bäume. Es gibt einen Innenhof mit noch mehr Grün, in dem man etwas Schutz vor dem Lärm und dem Dreck des Verkehrs an der Kreuzung genießt. Die hinteren Gebäudeteile sind sogar verhältnismäßig ruhig.
Damit endet unsere Betrachtung dieses Kreuzungbereichs. Interessant dürfte es werden, wie all diese Büro- und Gewerbeflächen in Zukunft gefüllt werden. Angesichts von leeren Büros infolge der jahrelangen Coronapolitik und angesichts schlechter Stimmung weiten Teil der Wirtschaft im Land kann man sich fragen, wie dies gelingen soll. Ein Bau wie “THE ONE” wird vermutlich zu Beginn noch von einem gewissen Prestige als “edle Neubauadresse” profitieren.
Die Wohnungen in Bauten wie “Kilian 1” werden sicher wegkommen, trotz irrwitziger Preise für Wohneigentum und Mieten. Die Menschen müssen eben irgendwo leben und sei es zwischen Schnellstraße und Tankstelle eingeklemmt. Ich habe aber leider außerdem den Eindruck, dass sich viele Menschen - unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten - gar nicht näher damit auseinandersetzen, in welcher Umgebung sie leben und wohnen, welche Gebäude ihnen angeboten werden und welche Baupolitik in der Stadt und darüber hinaus herrscht.
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